Die grosse Stube

Im Verlauf der letzten Jahrhunderte veränderte sich nicht nur die Platzform des Marktplatz Bohls, sondern auch seine Rolle für Stadt und Region. Die verschiedenen Prägungen, die dem Marktplatz-Bohl noch heute seine Bedeutung verleihen, sind einerseits Teil seiner tiefverwurzelten Geschichte, und andererseits auch Chancen für seine Zukunft. Die Arbeit mit den verschiedenen Lesarten bietet demzufolge sowohl die Basis für die Klärung der zukünftigen Rolle des Marktplatz-Bohls, als auch der Stoff, aus dem sein urbaner Beziehungsreichtum verstanden und kultiviert werden kann. Der Vorschlag basiert auf drei hauptsächlichen – jeweils aktuellen und historischen – Perspektiven, und verknüpft sie zu einer zusammenhängenden, vielschichtigen Idee:

Auf den ersten Blick sticht die zusammenhängende und grosszügige Platzformins Auge: Ein grosser Raum als Fuge zwischen der ersten Ringmauer und St. Mangen, unverstellt und mit einer kräftigen Belebung von seinen Rändern her. Dieser Zusammenhang wird durch einen zusammen- hängenden Bodenbelag und der neuen Platzierung der Marktstruktur verstärkt. Mit der Anordnung des ständigen Marktes wird von dermomentan unterbelebten Südseite des Marktplatzes aus neues Leben einhaucht und der Marktplatz-Bohl erhält eine neue, offene und flexibel bespielbare Mitte. Im Weiteren wird durch die Auslichtung der Allee am Marktplatz, die lose Neupflanzung von Bäumen auf dem Bohl und die Verteilung der ÖV-Haltestellen auf beide Seiten des Platzes samt ihren räumlich wirksamen Haltekanten die Strassenwirkung verringert. So werden zusätzlich die Gebäude am Nordsaum des Platzes integriert. Sie sind von nun an wieder direkt am Platz und nicht durch eine Strasse räumlich und nutzerisch abgetrennt. Der Marktplatz-Bohl wird, von Osten respektive Westen her durch die Engstellen entlang der neuen Bibliothek auf dem Blumenmarkt oder entlang des Waaghauses betreten oder befahren, zum Eintritt in die Altstadt, zur grossen Stube von St.Gallen!

Auf den zweiten Blick sind innerhalb des grosszügigen Platzes spezifische Orte mit unterschiedlichenNutzungen und Atmosphären auszumachen: Der Marktplatz als veritabler „Marktplatz“ mit der Mündung der Marktgasse als alte und neue geografische Mitte, inszeniert durch die neue maximal flexible Marktstruktur, die – analog des alten Rathauses – einen räumlichen Versatz in Richtung Nordwesten schafft, der dem ehemaligen Kornhaus gleich den Marktplatz-Bohl strukturiert. Der Bohl ist durch seine neuen Bodenintarsien, die räumliche Öffnung der Calatrava Haltestelle in südliche Richtung samt Wasserspiel, Blätterwerk und der Inszenierung des Waaghauses von nun an ein Ort mit hoher Aufenthaltsqualität im Alltag. Diese verschiedenen Atmosphären und Nutzungen stehen in der Tradition der charakteristischen Platzabfolge des 16.Jahrhunderts, die eine Raumrhythmisierung mit einem deutlich erkennbaren Kern aufwies, auf den und an dem sich die einzelnen Teile orientieren. Gezielte Unterschiede in Nutzung und Gestaltung sind Grundlage dieser sich ergänzenden Situationen.

Der dritte Blick eröffnet die Vernetzung und

Verschränkung des Marktplatz-Bohls mit der umliegenden Altstadt. Seine Lage macht ihn zur Schnittstelle vonüberlokalen Menschenflüssen (Busse, Bahn, Olma) und den feinen lokalen Arterien, die aus der Altstadt in den Marktplatz-Bohl münden, ihn überqueren und speisen. Die zusammen- hängende Bodengestaltung mit dem „Altstadtpflaster“ integriert die lokale Belebung von den nördlichen und südlichen Rändern her. Sie fusst in der Orientierung des Platzes vor dem 19. Jahrhundert, als die Nord-Süd-Achse von hauptsächlicher Relevanz war. Die Platzierung des Marktes an der Schnittstelle zwischen Marktplatz-Bohl und Marktgasse besetzt die historisch gewichtige Schlüsselstelle des ehemaligen Rathauses, dessen Abriss bereits damals sehr umstritten war, und fördert die enge räumliche und nutzerische Verknüpfung zwischen Marktplatz-Bohl und Altstadt. So entsteht nicht nur ein eigenständiger Platz, sondern vor allem ein Scharnier, Auftritt und Katalysator für die Renaissance der St.Galler Altstadt.

Einen Ort für den Markt schaffen

If the edge fails, the space doesn’t work (Chistopher Alexander)

Wie kann der ständige Markt sowohl hohe Flexibilität aufweisen, als auch einen relevanten stadträumlichen Ort besetzen und beleben? Dazu dient die Neuformulierung der südlichen Platzfassade des Marktplatzes, die momentan als stumme Fassade den Hintergrund für parkierende Fahrzeuge bildet. Da der Marktplatz-Bohl – wie die meisten Plätze – von seinen Rändern her belebt wird, ist die Neudefinition der nun von Parkplatzdiensten befreiten Südbegrenzung des Marktplatzes von hoher Wichtigkeit. Die nördliche Erweiterung der bestehenden Arkade des acrevis-Bankgebäudes soll gegen Norden hin um 2 Achsen erweitert werden, um in Zukunft den ständigen Markt zu beherbergen. Die frei unterteilbare offene Struktur besetzt die historisch gewichtige Schlüsselstelle des ehemaligen Rathauses und reaktiviert die prominente Lage der Bankschalterhalle wieder mit einer öffentlich Nutzung (Diese Nutzung ist flexibel konzipiert, die genauen Nutzungsbedürfnisse sind Teil des weiteren Mitwirklungsprozesses). So wird die Marktgasse, der Standort des alten Marktes, über die offene, einfach bespielbare Struktur mit dem Marktplatz verbunden und der Ort zum zentralen Dreh- und Angelpunkt des Marktplatz-Bohls. Der räumliche Versatz des Sockels des Bankgebäudes Richtung Nordwesten verweist historisch auf die tiefen Häuser entlang der alten Mauer, vor allem aber auf die Gliederung des Platzes Marktplatz-Bohl durch das nicht mehr existente Kornhaus. Der Anbau der Arkade ist nicht beheizt, er ist also keine kostenintensive und unflexible Markthalle, sondern eher eine städtebauliche Klärung mithohem Marktstandpotential .

Der ständige Markt ist nach Norden orientiert, und somit marktstandtechnisch optimal von der Sonne abgewandt und witterungsgeschützt – im teilweise schneereichen St.Galler Winter nicht ganz irrelevant. Er ist vielseitig bedienbar, kann flexibel unterteilt werden, und die Überhöhe der Arkade kann sogar als Stauraum für die Stände genutzt werden. Ein Kellergeschoss ist nicht zwingend, aber möglich. Die heutigen Lagerräume des Marktes können entweder weiterhin benutzt oder im Falle einer Unterkellerung der Arkade auf einfache Weise umgenutzt werden – zum Beispiel als Bar, als Ausstellungskeller oder als Ort für Anlässe. Falls erwünscht, ist ein fix installierter Vandalen- und Sonnenschutz einfach realisierbar, ein einheitliches Erscheinungsbild innerhalb der Arkadenerweiterung kann mit simplen Mitteln hergestellt werden. Ergänzend dazu können mobile Marktstände saison- und nutzungsbedingt in der Nähe der neuen Marktstruktur angeordnet werden – je nach Bedarf. Dies umfasst primär den Marktplatz, kann aber auch situativ und im Sinne von Synergien in Richtung Marktgasse verschoben werden, um beispielsweise den Wochen- oder Bauernmarkt auch parallel zu einem Public Viewing bei einer Weltmeisterschaft stattfinden zu lassen.

Der langfristigen Vision folgend, könnte das gesamte überhohe Erdgeschoss des Bankgebäudes bei Erfolg des neuen Markkonzeptes auch als Markthalle und Aufenthaltsort für St. Gallen dienen – ein Katalysator für die Attraktivitätssteigerung der Altstadt! Dazu muss festgehalten werden, dass sich Schalterhallen von Banken allgemein im Umbruch befinden. Sie werden aufgrund digitaler Geldtransaktionsmittel künftig wohl nutzerisch irrelevant. Da ihre städtebauliche Lage meist jedoch sehr prominent ist, sind ihre Umnutzungen neue Chancen für Eigentümer und Stadt. Die ehemals grossen und ehrwürdigen Schalterhallen der UBS am Bahnhof-platz oder an der Neugasse sind Zeugen dafür, dass eine Zerstückelung der Mietflächen und scheibchenweise Umbauten der Schalterhallen nicht nur architektonisch unbefriedigende Resultate liefern, sondern auch verpasste Chancen darstellen, öffentlich orientierte Nutzungen und langfristig erlebbare Aufwertungen von Erdgeschossen an prominentester Lage in St.Gallen zu schaffen.

Diesem Gedanken folgend, könnte die lokal verankerte acrevis-Bank ihre Rolle als regional anerkannte Institution stärken, und gemeinsam mit der Stadt die Schalterhalle in eine «Bank-Kaffee-Markthalle» oder in in eine reine Markthalle umfunktionieren, ohne auf die private Erschliessung der oberen Geschosse verzichten zu müssen.Der sozio-ökonomische Wert der Liegenschaft könnte so insgesamt zunehmen, und die Lagequalität gesteigert werden. Bei kluger Konzeption resultiert so ein positiver Impuls für die Bank, den Marktplatz-Bohl, die Altstadt von St.Gallen und die Gesamtstadt.